Pressemitteilung Nr. 178/2022
Urteile vom 13. Dezember 2022 – II ZR 9/21 und II ZR 14/21
Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:
Die Klägerinnen und Kläger der beiden Verfahren hielten Aktien der
Deutschen Postbank AG (Postbank). Die Beklagte, die Deutsche Bank AG,
veröffentlichte am 7. Oktober 2010 ein Übernahmeangebot nach § 29 Abs. 1
des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) zum Preis von 25 €
je Aktie, das die Klägerinnen und Kläger annahmen. Diese sind der
Auffassung, dass die Beklagte 57,25 € je Aktie als angemessene
Gegenleistung hätte anbieten müssen und verlangen Zahlung des
Differenzbetrags.
Die Deutsche Bank AG schloss am 12. September 2008 mit der Deutschen
Post AG einen Vertrag ("Ursprungsvertrag") über den Erwerb einer
Minderheitsbeteiligung an der Postbank von 29,75 % zum Preis von 57,25 €
pro Aktie. Zusätzlich wurden wechselseitige Optionen über Aktienpakete
in Höhe von 18 % (Erwerbsoption zu 55 € je Aktie) bzw. 20,25 % plus
einer Aktie (Veräußerungsoption zu 42,80 € je Aktie) vereinbart. Nachdem
die Deutsche Bank AG und die Deutsche Post AG Ende Dezember 2008
aufgrund veränderter Marktbedingungen zunächst vereinbart hatten, den
Vollzug der ursprünglichen Erwerbsvereinbarung zu verschieben, schlossen
sie am 14. Januar 2009 eine Nachtragsvereinbarung, nach der der Erwerb
der Postbank in drei Schritten erfolgen sollte: Zunächst sollte die
Deutsche Bank AG 50 Mio. Aktien (22,9 % des Grundkapitals der Postbank)
zum Preis von 23,92 € je Aktie erwerben. Sodann 60 Mio. Aktien (27,4 %
des Grundkapitals) über eine Pflichtumtauschanleihe mit Fälligkeit zum
25. Februar 2012 zum Preis von 45,45 € je Aktie und schließlich
26.417.432 Aktien (12,1 % des Grundkapitals) aufgrund von
wechselseitigen Optionen (48,85 € je Aktie für die Erwerbsoption und
49,42 € je Aktie für die Verkaufsoption). Die Optionen sollten zwischen
dem 28. Februar 2012 und dem 25. Februar 2013 ausgeübt werden können.
Die Deutsche Post AG verpfändete im Dezember 2008 und Januar 2009 Aktien
der Postbank an die Beklagte, um deren Ansprüche aus den getroffenen
Vereinbarungen und einer von der Beklagten geleisteten Sicherheit in
Höhe von 3,1 Mrd. € zu sichern.
Die Klägerinnen und Kläger sind der Ansicht, die Deutsche Bank AG
hätte schon aufgrund des Ursprungsvertrags ein Pflichtangebot zu einem
Preis von 57,25 € pro Aktie veröffentlichen müssen, weil dieser Vertrag
zu einem Kontrollerwerb der Beklagten gemäß § 29 Abs. 2 WpÜG geführt
habe.
Im Verfahren II ZR 9/21 hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Das
Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Auf die
Revision der Klägerin hat der Bundesgerichtshof das Urteil des
Oberlandesgerichts aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und
Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Das
Oberlandesgericht hat Beweis erhoben und die Berufung der Klägerin
erneut zurückgewiesen.
Im Verfahren II ZR 14/21 hatten die Klägerinnen und Kläger mit ihren
Klagen zunächst ganz überwiegend Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten
hat das Oberlandesgericht die Klagen abgewiesen.
Mit ihren vom Berufungsgericht zugelassenen Revisionen verfolgen die Klägerinnen und Kläger ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der für das Gesellschaftsrecht und Teile des Kapitalmarktrechts
zuständige II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die
Berufungsurteile aufgehoben und die Sachen an das Berufungsgericht
zurückverwiesen.
Die Klägerinnen und Kläger können einen Anspruch auf weitere Zahlung
haben, wenn die Beklagte bereits auf Grund der zwischen dem 12.
September 2008 bis Ende Februar 2009 geschlossenen Vereinbarungen
verpflichtet gewesen wäre, den Aktionären der Deutschen Postbank AG ein
Pflichtangebot nach § 35 Abs. 2 WpÜG zu unterbreiten. Dafür kommt es
darauf an, ob die Beklagte die Schwelle von mindestens 30 % der
Stimmrechte an der Postbank aufgrund der Zurechnung von Stimmrechten aus
den von der Deutschen Post AG gehaltenen Aktien gemäß § 30 WpÜG
überschritt. Die den Berufungsurteilen zu Grunde liegende Beurteilung,
dass die Voraussetzungen für eine Zurechnung von Stimmrechten nicht
vorliegen, hält in einigen Punkten einer rechtlichen Prüfung nicht
stand.
Soweit die Vereinbarungen Regelungen zur Ausübung der Stimmrechte aus
den Aktien durch die Deutsche Post AG bis zum Vollzug der Transaktionen
(sog. Interessenschutzklauseln) enthielten, kommt es für die Zurechnung
wegen einer Verhaltensabstimmung durch eine Verständigung über die
Ausübung von Stimmrechten (§ 30 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 Fall 1, Satz 2
Fall 1 WpÜG) nicht darauf an, ob eine Interessenschutzklausel darauf
gerichtet ist, die bestehenden Verhältnisse bei der Zielgesellschaft im
Zeitraum zwischen dem Abschluss und dem Vollzug eines Kaufvertrags über
Aktien der Zielgesellschaft aufrechtzuerhalten und/oder diese keine über
die allgemeine Leistungstreuepflicht hinausgehende Absprache oder
tatsächliche Einflussnahme vorsieht. Maßgeblich ist vielmehr, ob die
Regelungen auf eine tatsächliche und konkrete Einflussnahme bei der
Zielgesellschaft gerichtet waren. Diese Voraussetzung lag nach den
getroffenen Feststellungen hinsichtlich des jeweils ersten Teils der
Transaktion, den Erwerb einer Minderheitsbeteiligung, nicht vor. Ob eine
Zurechnung unter diesem Gesichtspunkt auch in einer Gesamtschau der
vorgelegten Verträge zu verneinen ist, kann aufgrund der getroffenen
Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden. Soweit sich in
diesem Zusammenhang Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts,
namentlich der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote stellen, hat der
Senat von einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union
abgesehen, weil im jetzigen Verfahrensstadium nicht abzusehen ist, dass
es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf eine Antwort des
Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung des
Gemeinschaftsrechts ankommen wird.
Eine Zurechnung von Stimmrechten kommt weiter unter dem Gesichtspunkt
in Betracht, dass die Deutsche Post AG die Aktien der Postbank nach den
Vereinbarungen bereits für Rechnung der Beklagten gehalten hat (§ 30
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpÜG). Das Berufungsgericht hat hierzu
rechtsfehlerhaft angenommen, dass die Voraussetzungen einer Zurechnung
nicht vorliegen, weil die Dividendenchance aus den betreffenden Aktien
bei der Deutschen Post AG verblieben sei. Die gebotene Gesamtbetrachtung
unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten spricht unter Berücksichtigung
der getroffenen Feststellungen nicht gegen, sondern für den Übergang der
Dividendenchance auf die Beklagte.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts im Verfahren II ZR 14/21
erweist sich auch nicht teilweise im Ergebnis als richtig, weil die
Ansprüche einiger Klägerinnen und Kläger verjährt sind. Der geltend
gemachte Anspruch unterliegt der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei
Jahren nach §§ 195, 199 BGB. Eine Klageerhebung war den betreffenden
Klägerinnen und Klägern allerdings wegen der rechtlichen Unsicherheiten
über das Bestehen eines Anspruchs jedenfalls vor dem Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 29. Juli 2014 (II ZR 353/12, BGHZ 202, 180) nicht
zumutbar.
Vorinstanzen:
II ZR 9/21
LG Köln - Urteil vom 29. Juli 2011 - 82 O 28/11
OLG Köln - Urteil vom 31. Oktober 2012 - 13 U 166/11
BGH - Urteil vom 29. Juli 2014 - II ZR 353/12
OLG Köln - Urteil vom 16. Dezember 2020 - 13 U 166/11
und
II ZR 14/21
LG Köln - Urteil vom 20. Oktober 2017 – 82 O 11/15
OLG Köln - Urteil vom 16. Dezember 2020 – 13 U 231/17
Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
§ 29 WpÜG
(1) Übernahmeangebote sind Angebote, die auf den Erwerb der Kontrolle gerichtet sind.
(2) Kontrolle ist das Halten von mindestens 30 Prozent der
Stimmrechte an der Zielgesellschaft aus dem Bieter gehörenden Aktien der
Zielgesellschaft oder dem Bieter nach § 30 zugerechneten Stimmrechten
an der Zielgesellschaft. …
§ 30 WpÜG
(1) Stimmrechten des Bieters stehen Stimmrechte aus Aktien der Zielgesellschaft gleich,
…
2. die einem Dritten gehören und von ihm für Rechnung des Bieters gehalten werden,
…
(2) Dem Bieter werden auch Stimmrechte eines Dritten aus Aktien der
Zielgesellschaft in voller Höhe zugerechnet, mit dem der Bieter oder
sein Tochterunternehmen sein Verhalten in Bezug auf die Zielgesellschaft
auf Grund einer Vereinbarung oder in sonstiger Weise abstimmt;
ausgenommen sind Vereinbarungen in Einzelfällen. Ein abgestimmtes
Verhalten setzt voraus, dass der Bieter oder sein Tochterunternehmen und
der Dritte sich über die Ausübung von Stimmrechten verständigen oder
mit dem Ziel einer dauerhaften und erheblichen Änderung der
unternehmerischen Ausrichtung der Zielgesellschaft in sonstiger Weise
zusammenwirken. Für die Berechnung des Stimmrechtsanteils des Dritten
gilt Absatz 1 entsprechend.
§ 31 Absatz 1 WpÜG
Der Bieter hat den Aktionären der Zielgesellschaft eine angemessene
Gegenleistung anzubieten. Bei der Bestimmung der angemessenen
Gegenleistung sind grundsätzlich der durchschnittliche Börsenkurs der
Aktien der Zielgesellschaft und Erwerbe von Aktien der Zielgesellschaft
durch den Bieter, mit ihm gemeinsam handelnden Personen oder deren
Tochterunternehmen zu berücksichtigen.
§ 35 Absatz 2 Satz 1 WpÜG
Der Bieter hat innerhalb von vier Wochen nach der Veröffentlichung
der Erlangung der Kontrolle über eine Zielgesellschaft der Bundesanstalt
eine Angebotsunterlage zu übermitteln und nach § 14 Abs. 2 Satz 1 ein
Angebot zu veröffentlichen.
§ 195 BGB
Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.
§ 199 BGB
(1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein
anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in
dem
1. der Anspruch entstanden ist und
2. der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der
Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit
erlangen müsste.
…